Als ich im Februar das Staatsarchiv Hamburg besuchte, fand ich ein bestelltes Packet Akten vor. In ihnen befanden sich vor allem Briefe. Handschriftliche und maschinengetippte: Sehr geehrter hochwohlgeborener …. Hochwohlgeborenen …, Hochverehrter Herr Professor! …, Euer Hochwohlgeborenen ganz ergebenster …, Mit vorzüglicher Hochachtung … So redete man sich damals an.
Thema der Korrespondenz waren die Kochkurse am Kolonialinstitut Hamburg. Das Institut unterrichtete zukünftige Kolonisten nicht nur in Landeskunde und Landwirtschaft, sondern bot den Studenten [!] auch Kochkurse an.
Viel Organisatorisches galt es zu klären: Ob die Kurse nur im Wintersemester oder auch im Sommer angeboten werden sollen, ob auch Ärzte an den Kursen teilnehmen können, wer die Kosten für die Kochschürzen übernimmt (das Institut oder die Studenten) usw. – Und dann wurde es interessant für mich: Man wolle den Teilnehmern das Mitschreiben der Rezepte im Unterricht ersparen und bat die Lehrerin, Frl. Helene Lotz, die gesammelten Rezepte für den Druck zu notieren. Das hat mich doch sehr an die Anfänge des Bayerischen Kochbuchs in München und Miesbach erinnert. Dort waren es Landfrauen, denen man diese Mühe ersparen wollte.
Helene Lotz sichtete ihr Unterrichtsmaterial für die Herren Studenten und zukünftigen Kolonisten. Auch wenn man sich scheute, die kleine Sammlung von gut 100 Kochtipps und Rezepten Kochbuch zu nennen und auf das Titelblatt später Kochrezepte schrieb: ein Register brauchte die Sammlung schon. Den Entwurf dazu fand ich unter der Korrespondenz zwischen Lotz und Schulverwaltung.
Tabellen und Listen springen mich an. Sie versprechen Struktur und Sorgfalt. Und diese Tabelle ist wirklich zauberhaft. Das ca. 30 x 40 cm große Blatt Papier ist an zwei Knickstellen mit Klebestreifen stabilisiert. Die Handschrift von Helene Lotz ist gut zu lesen, sie verwendet schwarze Tinte. Oben links auf der Seite steht Inhalts-Verzeichnis.
Die Tabelle setzt sich aus 6 Spalten mit 4 Zeilen zusammen. Die Spalten ziehen sich durch die ganze Tabelle, die Zeilen sind zum Teil gestört. In einzelnen Spalten ist die Zeilenlinie verrückt: Bei der 2. und 6. Spalte ist die 2. Linie nach unten versetzt, so dass die betroffenen Zellen größer bzw. kleiner werden. Die 4. Zeile erstreckt sich nur über die Spalten 1 und 2.
Ich habe die Tabelle mal nachgebaut:
Für Helene Lotz gab damals kein copy & paste und mit Papier wollte sie sicher auch nicht aasen. Also müssen ihre Schritte wohlüberlegt gewesen sein. Erst die Rezepte sortieren, sich einen Überblick verschaffen, dann die Tabelle anlegen und die Zellen beschriften.
Nicht jeder Buchstabe braucht eine Tabellenzelle: i, j, q, u, x, y, z kommen in der Tabelle nicht vor. Gerichte, die italienisch oder Joghurt im Namen tragen, fehlen in der Sammlung, Quark wird an anderer Stelle als Käsequark versteckt. Dass es für u, x und y keine Einträge gibt, ist nicht weiter bemerkenswert, sie finden sich auch in umfangreichen Kochbüchern unserer Tage selten. Dagegen ist das Fehlen einer z-Zelle für z.B. Zitronenlimonade, Zwetschgenkuchen oder Zwiebelsuppe schon auffällig:
Ebenfalls zum Bestand des Hamburger Staatsarchiv gehört das gedruckte Heft mit den Kochrezepten und dem fertigen Inhalts-Verzeichnis. Das ist spannend, denn nun kann man Skizze und Endprodukt vergleichen. Im Unterschied zum Entwurf können und müssen den Rezepten nun auch Seitenzahlen zugeordnet werden. Jetzt verlasse ich kurz die beschreibende Perspektive und bin streng: Es handelt sich in diesem Fall nicht um ein Inhaltsverzeichnis, sondern ein Register. Das Inhaltsverzeichnis listet den Inhalt entsprechend der Reihenfolge im Buch, das Register sortiert nach dem Alphabet, so wie hier. Das nächste Mal macht Ihr das besser …
Der Vergleich zeigt, dass die handschriftliche Vorlage in der Sortierung dem gedruckten Resultat entspricht. Mit einer Ausnahme: Cakao, Cokosnussmakronen, Cokosnussmilch, Condensierte Milch stehen in dem gedruckten Exemplar unter K: Kakao, Kokosnußmakronen, Kokosnußmilch, Kondensierte Milch. Das hat sich bereits bei der handschriftlichen Version mit einer Klammer um die C-Einträge und einem Pfeil Richtung K angekündigt. Ein weiterer Beleg, dass die Rechtschreibung bei weitem noch nicht so normiert war, wie wir dieser Zeit gerne unterstellen, ist die Schreibung von ss/ß in Cokosnuss vs Kokosnuß und Eiweiss vs Eiweiß etc.
Als letzte Bemerkung zur Sprache (meine Herkunft als Sprachwissenschaftlerin kann ich nicht verleugnen) erlaube ich mir, auf die Fricadellen in der handschriftlichen Version und Frikandellen in der gedruckten hinzuweisen. Beide Varianten wurden nebeneinander verwendet, bis dann die die n-lose sich durchsetzte. So gesehen war der Entwurf von Helene Lotz fortschrittlicher als die spätere Druckfassung. Dazu habe ich einen Beleg in einem anderen norddeutschen Kochbuch gefunden. Die Hannoveraner Haushaltungsschule gab 1913 ein Kochbuch mit dem schönen Titel 200 Kochrezepte heraus und dort heißt das Rezept Frikandellen und 1921 (das Kochbuch trägt mittlerweile den Titel 230 Kochrezepte) liest man Frikadellen.
Zurück nach Hamburg und dem Kolonialinstitut. Zum Schluss werfen wir einen ersten Blick in die Rezepte. Die Rezeptsammlung wurde – wie eingangs erwähnt – für zukünftige Kolonisten aufgeschrieben. Ihnen glaubte man wohl auch Küchengrundkenntnisse vermitteln zu müssen. Das erste Rezept auf Seite 5 und der erste Eintrag unter dem Buchstaben S im sogenannten Inhalts-Verzeichnis lautet:
Nr. 1: Das Salzen von Wasser zum Kochen von Fleisch, Gemüse und dergl.: auf 1 Liter Wasser 10 Gramm - 1 Eßlöffel Salz. Bei längerer Garzeit der betreffenden Speise, einen Teil Wasser zum Kochen berechnen und nicht salzen. Zum Beispiel: für 1 Liter fertige Suppe bei 1/2 Stunde Garzeit 1 1/2 Liter Wasser - 2 Eßlöffel Salz bei längerer Garzeit entsprechend mehr Wasser zugeben.
Wenn weder eine deutsche Hausfrau noch ein chinesischer Koch bei der Hand war, musste sich ein Kolonist selbst helfen.