In großer Kurrentschrift steht auf dem Buch „Ich reise durch die Welt“. Heute ist die Schrift für viele eine Herausforderung – zum Glück kann man auf dem Titelblatt alles in Ruhe gedruckt nachlesen. Halb verdeckt vom Schriftzug ist auf dem Umschlagbild ein Skizzenblatt von Erna Pinner zu sehen. Sie war nicht nur Autorin, sondern vor allem eine gefragte Zeichnerin und Illustratorin. Pfahlbauten, Masken, Palmen, Tiere und mehrere Frauen erkennt man darauf. Frauen stehen im Fokus ihres Interesses. Dazu später mehr.
Geboren wurde Erna Pinner in Frankfurt am Main 1890. Wo ihre Neigung und Begabung lagen, war wohl recht schnell klar, denn mit 16 begann sie bereits mit der künstlerischen Ausbildung. Erst studierte sie in ihrer Heimatstadt dann in Berlin. Dort lernte sie den Autor Kasimir Edschmid kennen. Unter anderem muss die beiden ein großes Fernweh verbunden haben, denn sie reisten und reisten und reisten. Ihre Eindrücke hielten sie fest in Reiseberichten, die sie publizierten: jeder für sich oder gemeinsam – er schreibt und sie illustriert. Die Bücher dieser Serie, die sie alleine verantwortet, tragen die Reisende im Titel Eine Dame in Griechenland (1927) und Ich reise durch die Welt (1931).
Mich interessieren ihre Berichte aus den Kolonien.
Als sie reiste, war das deutsche Kolonialreich schon Geschichte – aber Erna Pinner noch deutlich präsenter, als uns heute. Sie reist und schreibt mit offenem Herzen und Neugierde im Blick. Freilich als Kind ihrer Zeit in der Sprache ihrer Zeit. Laut Klappentext von 1931 fährt Pinner durch fünf Ozeane und vier Erdteile … und berichtet nicht nur voll Klugheit und Humor, sondern setzt sich ernsthaft mit den wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Frau, der Zeit und der Rassen in aller Welt auseinander.
In Sansibar besucht sie die Schwester des Sultans, Mrs. Sidhwa. Deren Ehemann liebt Deutschland. Die Wände schmücken Radierungen von Rothenburg ob der Tauber und Dinkelsbühl. Mit wenigen Worten skizziert Pinner die Geschichte der Insel:
Die ganze Geschichte Sansibars lag vor mir. Sansibar war einst das Bagdad und Damaskus Ostafrikas. Zuerst kamen die Araber aus Persien und gründeten mächtige Sultanate in Ostafrika. Dann wurden sie von Vasco da Gama mit seinen Portugiesen verjagt. Die Portugiesen […] beherrschten die Küste von Somaliland bis Mosambique. Sie lebten vom Sklavenhandel, und ganz Afrika war von ihnen organisiert. Das hörte mit den Engländern auf. Ende des vorigen Jahrhunderts zerfiel das Ostafrikanische Reich. Die europäischen Mächte teilten die Sultanstaaten untereinander auf. Deutschland erhielt das nachmalige Deutsch-Ost, Italien Somaliland, die Portugiesen Mosambique und England Kenya mit der Insel Sansibar. Erna Pinner, Ich reise durch die Welt, Erich Weiß Verlag Berlin 1931, S. 11f
Wie gesagt: Frauen stehen bei Erna Pinner im Fokus. In dem Kapitel Frauen in Afrika bescheibt sie die verschiedenen Kleidungsstile, die ihr begegnen.
Europa und Amerika sind in der Frauenmode vollkommen uniform. Zwischen Berlin, Paria, New York und Valparaiso gibt es keine Abweichungen und keine speziellen Eigentümlichkeiten mehr. [...] In Afrika ist es anders. Selbst in der Unbekleidetheit gibt es noch viele Nuancen. […] Ich kann wohl sagen, daß ich, von Europa kommend, sehr kindliche Vorstellungen von der Negerinnenmode hatte. Ich hatte höchstens einen Lendenschurz erwartet. Erna Pinner, Ich reise durch die Welt, Erich Weiß Verlag Berlin 1931, S. 48ff
Bemerkenswert finde ich, wie Pinner den eigenen Blick reflektiert. Sie nennt sich selbst kindlich in einem – aus deutscher Sicht postkolonialen – Kontext. Das ist auffällig, da die Kolonisierten von den deutschen Kolonisten vielfach als Kinder bezeichnet wurden.
Die beschriebenen Kleidungsstile reichen von adaptierter europäischer Mode mit hoher Taille und Puffärmeln, bunt gemusterten Stoffen in weiten faltigen Röcken von Barotsefrauen im heutigen Sambia über unterschiedlichste Haartrachten und Körperschmuck.
Pinner mutmaßt, dass mit der Emanzipation nicht nur die Kleidungsstile sich ändern werden, sondern auch die beklagenswerte Arbeitsbelastung der Frauen sich verringern würde.
Das Buch ist geschrieben in der Sprache seiner Zeit. Wer darüber hinweg sieht, begegnet einer reflektierten Frau, die uns ihre Zeit näher bringen kann.
Wenige Jahre nach Erscheinen des Buches mussten Erna Pinner und der Verleger des Buches, Erich Reiß, Deutschland verlassen. Im nationalsozialistischen Deutschland gab es keine Bleibe für deutsche Juden. Pinner emigrierte nach England, wo sie 1987 starb.
Im Herbst 2022 erscheint eine Neuauflage der Curious Creatures von Erna Pinner im Weidle Verlag und der Ausstellungskatalog Zurück ins Licht über ihr Leben (und das drei weiterer vergessener jüdischer Künstlerinnen) im Kerber Verlag.