In der Bergmannsprache ist der Stollen ein unterirdischer Gang.
Kulinarisch betrachtet ist er ein jahreszeitliches Gebäck, eines der Weihnachtszeit über das man sich viele Gedanken machen kann. Mit der Symbolik von Form und Puderzucker will ich garnicht anfangen. Das ist nicht meine Spielwiese.

Stollenfragen
Wann die richtige Zeit ist, den Christstollen zu backen, wie lange er vor dem ersten Anschnitt liegen muss, ab wann er gegessen werden darf – das sind Fragen, die mich schon interessieren.
Der früheste Termin für den Anschnitt, den ich kenne, ist der Sonntag vor Allerheiligen. Gewährsperson ist unsere Bäckerin auf dem Dorf. Den spätesten Termin – Heiligabend – hab ich von meiner Bremer Freundin, die Danziger Wurzeln hat. Mich begleitet der Stollengenuss ab dem ersten Advent. Und liegen sollte er zwei Wochen. Das heißt: Für mich war letzte Woche Backzeit.

Nun zu der eigentlich wichtigen Frage:
Nach welchem Rezept wird gebacken? In dem diesjährigen wunderbaren Herbstkurs der vhs-würzburg In alten Kochbüchern lesen hatte eine Teilnehmerin ein Kochbuch mitgebraucht, das in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen ist. Auf den letzten Seiten fand sich ein handschriftlicher Eintrag mit folgender Überschrift: endgültiges Stollenrezept. Ich war begeistert. Das ultimative letzte Stollenrezept. Ein Rezeptname, der für einen Romantitel taugt, verweist er auf so viele Geschichten und Rezepte, die diesem endgültigen vorausgingen.
Hier die Transkription – so wie ich den Text gelesen habe.

endgültiges Stollenrezept
auf
5 Pfund Mehl
1 l Milch
600 gr Zucker
3 Stück Butter
100 gr Rindertalg
125 gr süsse Mandeln
70 gr bittere Mandeln
200 gr Zitronat
Schale einer Zitrone
Rhum
3 Pfund Rosinen (2 Tage vorher verlesen, waschen & im Rhum einweichen)
48 gr Salz
Bäcker hat 1963 etwas weniger,
= zu wenig genommen


16.4.65 ? neuen Ofen Sandlänge (?)
auf unterster Schiene
fast kleinste Flamme 70 Min.

Kurz zu Schrift und Schreibe.
Der Text ist mit blauem Kugelschreiber verfasst, ein spätere Zusatz mit Datum wurde mit Blei hinzugefügt. Das Kürzel für Pfund habe ich aufgelöst. Es steht für libra (lb), Abkürzung für latein pondo libra. Die Schreibung Rhum mit h ist ungewöhnlich. In den historischen Wörterbüchern habe ich diese Variante nicht gefunden.


Zum Rezeptinhalt.
Mehl, Milch, Zucker – soweit erwartbar. Als Fett wird Butter und Rindertalg verwendet. Rindertalg war in früheren Zeiten eine geläufige Zutat, heute findet man sie selten. Interessanterweise bietet unser Metzger zur Vorweihnachtszeit immer Rindertalg an, ich bin offensichtlich nicht die einzige, die auch ihren Stollen damit backt. Süße und bittere Mandeln gehören auch in einen Stollen. Ich vermute heutzutage verwenden viele Bittermandelöl. Die vielen Rosinen sollten vor dem Waschen verlesen werden um sie von Ästchen zu reinigen. Das empfiehlt sich auch heute noch. wieviel Rhum man braucht, steht nicht im Rezept. Es ist eine ganze Menge, wenn der Stollen saftig sein soll.
Mit Salzmenge nimmt es die Schreiberin (vermute ich) ganz genau: 48 Gramm und kein Körnchen weniger. Sonst ist der Stollen nur halb so gut. 1963 hat der Bäcker (dem man offensichtlich beauftragte, nach diesem Rezept Stollen zu backen) weniger als die angegebene Menge genommen und das hat man geschmeckt.


Und was fehlt? Die Hefe! So gelingt der Stollen nicht. Wurde die Angabe mündlich tradiert? Hier rächt sich, dass nur die Zutaten notiert wurden, hätte man auch die Zubereitung aufgeschrieben, wäre diese Lücke vermutlich aufgefallen.


Rätsel
Der datierte Zusatz gibt mir Rätsel auf. Offensichtlich gab es einen neuen Herd im Haushalt. Einen Gasherd. Nun heißt es aufprobieren, wie lange er bei welcher Hitze backen muss, damit der Stollen gelingt. Manches ist unleserlich und auf Sandlänge kann ich mir keinen Reim machen. Eine Ofenfirma dieses Namens finde ich nicht im Netz. Das größte Rätsel aber ist das Datum: Der 16.4.65 war Karfreitag.

Wie gesagt: Das endgültige Stollenrezept erzählt Geschichten … man muss sie finden.

Ich schätze diese persönlichen Einträge in gedruckten Kochbüchern. Sie sind Gebrauchsspuren. Das Buch wird verwendet, aber dieses und jenes muss noch angefügt werden. Der Kanon ist lebendig und nicht eingefroren.