Kochbücher erzählen Geschichten. Geschichten von Rezepten, von Zutaten, von Zeitläuften und Menschen. Besonders Kochbücher, die als Familienschätze bewahrt werden. Manche liegen in der Schublade, gelegentlich sehen sie das Tageslicht und jemand versucht die alte Schrift zu entziffern, bevor sie wieder vorsichtig verpackt ihren Platz im Dunkeln finden. Andere werden über Jahrzehnte und Generationen benutzt und schmücken sich mit immer neuen Fettflecken. Das kleine Kochbuch von Anna [Namen im Text geändert, rf] liegt das Jahr über gut behütet an seinem Platz. Jedes Jahr zur Adventszeit holt ihre Tochter es hervor und backt Plätzchen nach den Rezepten, die vor vielen Jahrzehnten dort eingetragen wurden.
Anna wurde 1926 in Theilheim geboren und war das vierte von fünf Kindern. Annas Vater, ein Landwirt, war der zweite Mann ihrer Mutter. Der Erste Weltkrieg hatte sie früh zur Witwe gemacht. Der Bruder ihres gefallenen Mannes heiratete seine verwitwete und unversorgte Schwägerin mit ihren zwei Kindern. Anna besuchte die Volksschule und arbeitete danach im elterlichen Haushalt um die erblindende Mutter zu unterstützen. Bald lernte Anna den Heidingsfelder Knecht Friedrich kennen und lieben. Nach der Hochzeit wohnte das junge Paar bei ihren Eltern in Theilheim. Sie bekamen drei Kinder, zwei Söhne und die Tocher Barbara. 2019 starb Anna. Heute lebt Barbara mit ihrem Mann im Elternhaus. Das ist gelebte Nachhaltigkeit, ganz ohne Nachverdichtung.
Anna besaß keine gedruckten Kochbücher. Ihre gesammelten Rezepte schrieb sie über Jahre in ein grünes kleines Heft (9 x 14 cm). Sie war nicht die erste, die dieses Heft benutzt hat. Auf den ersten fünf der 34 Seiten notierte ihre jüngere Schwester Christine Eigenschaften der Sternzeichen: Wassermann (21.I. = 20.II.) Gute Geistesanlagen u. Bildung, besonnen u. logisch in Gedanken u. Wort bis Stier (210.IV. = 21.V.) Großer Genießer. Geduldig u. ausdauernd in der Arbeit. Dann brechen die astrologischen Notizen ab und die Rezepte beginnen. Christine hatte das Heft ihrer älteren Schwester überlassen. Für den Alltag brauchte Anna kein Kochbuch. Auch das von der Familie geschätzte Rezept für Apfelblootz hatte sie im Kopf. Nur für das Adventsgebäck, das man nur einmal im Jahr backt, machte sie sich Notizen. 54 Plätzchenrezepte findet man in dem kleinen Kochbüchlein. Sie wurden nacheinander eingetragen, anfangs mit einem dunkelblauen Buntstift, dann mit Bleistift. Nach einigen Seiten gesellt sich eine zweite Handschrift dazu, die der Tochter Barbara. Mutter und Tochter haben die Rezeptsammlung gemeinsam weitergeführt.
Rezepte sind Freiwild. Ihre Herkunft wird meist unterschlagen. Anders bei diesem Kochbüchlein. Auffällig viele tragen einen Quellennachweis: Die Rezepte für Lebkuchen und Schokoladenplätzchen sind von der Patin, Schnitten von Kordmann Anna, von Helga die Mürbchen und Vanillhäufchen und Wallburga hat Spitzbuben, Nußtaler, Buttergebäck und Weinplätzchen zu der Sammlung beigesteuert. Verwandte und Freundinnnen der Familie sind hier versammelt.
Die Nußtaler sind besonders beliebt, sie stehen zweimal im Kochbüchlein. Für sie braucht man: 375 gr Mehl, Gustin, 2 gestrichene Teelöffel Backpulver, 250 gr Zucker, 1 Vanillzucker, etwas Bittermandel, 2 Eier, 250 gr Butter, 250 gr Nüsse. In Theilheim dürfen das gerne Walnüsse sein. Die Zubereitung hat Anna nicht notiert. In anderen Rezepten ist sie angegeben, manchmal ausführlich und machmal knapp. Bemerkenswert ist die Mengenangabe für Mehl bei dem Rezept für Griefenplätzchen. 2 Tassen Griefen, 1 Tasse Zucker, 2 Eier, 1/2 Tasse Milch, 1 Backpulver soviel Mehl, daß man die Plätzchen aufs Plech setzen kann. Hier ist die Zubereitung Teil der Mengenangabe. Der Unterfränkin Anna sieht man nach, dass sie annahm, alle weichen Konsonanten wären in der Standardsprache hart – auch das Blech.
Die Einträge in dem kleinen Heft erzählen die Geschichte der Handschrift im 20. Jahrhundert. Die jüngere Schwester Christine, die Ende der 30er Jahre das Schreiben lernte, verwendet die lateinische Schrift, die ältere Anna hatte Anfang des Jahrzehnts noch Sütterlin gelernt. Die letzten Rezepte von ihr sind in lateinischer Schrift mit Resten von Sütterlin geschrieben. Dazwischen liest man die lateinische Handschrift der Tochter Barbara.
Das letzte Rezept ist auch ein saisonales, aber kein weihnachtliches sondern eines für den Sommer: Gurkenrezept. Er erzählt von der Langlebigkeit und dem Gebrauch des Büchleins. Einst hat Anna es in Bleistift eingetragen. Die Schrift verblasste, aber das Rezept war ihr wichtig, da sie es jeden Sommer brauchte, um Gurken und Rote Rüben einzulegen. Also schrieb sie noch einmal mit Kugelschreiber drüber.
Quelle: Kochbüchlein von Anna, undatiert, geschrieben ab 1945.