Im ersten Lockdown rief mich eine Schweinfurterin an, die die Zeit zum Aufräumen nutzte, und bot mir das Kochbuch ihrer Großmutter an. Übergabe, irgendwann, wenn es mal wieder geht. Und nun – Januar 2022 – haben wir uns getroffen und ich bekam einen echten Schatz überreicht.

Vielen Dank nach Schweinfurt!

Das Reform-Kochbuch „Tischlein deck Dich“ von Th. Haslinger, erschienen 1895 in Stuttgart. Ein Kochbuch, das außer Kochrezepten für bürgerliche und feine Küche auch Mustermenus für alle Gelegenheiten und Jahreszeiten, Tafeldecken, Kaltes Buffet, Hauskonditorei, Wurstmachen, Bowlen- und Likörbereitung, Pick-nick-Arrangements und Empfehlenswerte Bezugsquellen bietet.

Auf die Picknick-Vorschläge bin ich schon gespannt. Das Vorwort hält eine weitere Überraschung für mich bereit: Dort lese ich, die Rezepte im Kochbuch seien nicht fremdländisch, denn „Grönländer, Chinesen und Südseeinsulaner haben wir ja doch selten zu Gast.“

Haslinger schrieb das zu einer Zeit, als das Deutsche Reich eine expansive Kolonialpolitik betrieb, unter anderem in China und der Südsee. Wieder ein Kochbuch, das deutlich Zeuge seiner Zeit ist. Die Autorin preist ihre einfachen und traditionellen Rezepte an und setzt sich von aktuellen Kochtrends ab.

Während meines Aufenthaltes in der Fremde und meiner praktischen Thätigkeit in der Küchen-Direktion habe ich oft gesehen, daß … geladene Herren erst in einem guten Restaurant ihrem Magen eine solide Grundlage geben, ehe sie die zu erwartenden Genüsse über sich ergehen lassen. Sie fürchten sich förmlich vor diesen 'chinesischen Vogelnestern', vor Syrupsauce am Kameruner Salat und vor ägyptischen Melonenschlegel mit Zwiebackklößchen, die es geben wird.

Man gewinnt beim Lesen den Eindruck, die heimkehrenden Entdecker und Kolonisten hätten die Küche des Deutschen Reichs mit mitgebrachten Speisen und Rezepten geflutet. Bisher ist die Beleglage, die das bestätigt, dünn. Was Haslinger unter bürgerlicher und feiner Küche versteht und was man dafür braucht, zeigen nicht nur die Menüs am Buchende, sondern die Mengenangaben pro Person.

Austern: durchschnittlich ein halbes Pfund
Caviar: etwa 25 Gramm
Fische: 250 bis 300 Gramm

Weiter auf der Liste stehen: Huhn, Indian (= Truthahn), Gans, Ente, Taube, Krammetsvögel (= Wacholderdrossel), Kapaun, Schnepfe, Fasan, Feldhuhn und Spanferkel.
Mal wieder zeigt sich, dass die bürgerliche Küche der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sehr viefältig war – wie auch der Auszug der Menüvorschläge bestätigt.

Warum aber der Titel Reform-Kochbuch? Was wird reformiert?

Reform war groß in Mode Ende des 19. Jahrhunderts. Laut Meyers Konversationslexikon gab es Reformbetten, Reformkleidung, Reformschulen u.s.w. Auf den ersten Blick finde ich in diesem Kochbuch kaum Belege, dass Haslinger eine glühende Verfechterin der Reformküche war. Fleisch nimmt eine zentrale Rolle in ihren Rezepten und Menüs ein. Aber ein Vegetarier Diner bezeugt, dass sie die zeitgenössische Diskussion um fleischlose Ernährung zur Kenntnis genommen hat:

Grüne Erbsensuppe mit Reisklößchen
Spargeln, Omelette und Salat
Blumenkohl mit Eiersauce
Eingemachte Früchte
Vanille-Creme mit Himbeer-Sauce
Frisches Obst
Käse, Pumpernickel und Graham-Brot

Auf den zweiten Blick sehe ich dann, dass die Autorin durchaus die Küche reformieren will. Aber anders als erwartet habe. Sie will sie feiner und leichter machen, wie die Einleitung zu ihrem Gemüsekapitel zeigt:
Wie viel Mühe hat der Gärtner und wie strengt sich die liebe Sonne an, das ganze Pflänzchen zur Reife zu bringen und dann kommt es in die Küche und wird mißhandelt, ohne daß es sich wehren kann.
Abgekocht und seines besten Saftes beraubt, in einem dicken Mehlbrei jämmerlich erstickt, gezuckert, wo es nach Salz lechzt, mit Essig geträngt, wenn es nur ein wenig Bouillon möchte, und was dererlei Missethaten mehr sind, für die es sich dann grausam rächt und schlecht, oder nach gar nichts schmeckt.

Das nenne ich eine Ansage in einem deutschen bürgerlichen Kochbuch des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Das Kochbuch ist wunderbar erhalten. Die einzigen deutlichen Gebrauchsspuren sind von Kinderhand: Tintenflecken auf dem Umschlag und Kritzeleien auf den Menüseiten (wie man sehen konnte). Im Übrigen macht das Kochbuch selber einen schier unbenutzten Eindruck. Dafür finde ich einlegte Blätter am Ende des Buches. Ein aus einer Zeitung ausgeschnittenes Rezept mit der Meldung einer Luftschifflandung auf der Rückseite. Sie dient mir zur Datierung der Verwendung des Kochbuchs: Am 15. November 1924 landete das Luftschiff Zeppelin LZ 126 in New York.
Auch die kläglichen Reste eines Kochbuchs von Dr. Oetker finde im eingelegt. Schon vor 100 Jahren riet das kleine Kochbuch der Hausfrau, Zutaten aus der hauseigenen Bielefelder Produktion zu verwenden: Vanillinzucker, Zitronen-Essenz, Milcheiweiß-Pulver und Backin braucht man neben Butter, Zucker, Mehl und Milch für den einfachen Napfkuchen.

Mein Resüme: Ein schönes Kochbuch mit qualitätvollen Rezepten und die Erkenntnis: Das Thema Kochbücher erzählen Kolonialgeschichte(n) bringt noch viel Überraschungen!


P.S. Die Pick-nick-Arrangements suche ich weiterhin – bisher vergeblich.