Im aktuellen Heft der Zeitschrift journal culinaire ist eine Rezension von mir zum neuen Buch von Walter Schübler Vom Essen zwischen den Kriegen zu lesen oder auch hier:
Vom Essen zwischen den Kriegen ist eine umfangreiche Sammlung von zwischen 1919 und 1939 entstandenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sowie Abbildungen zum Thema Essen. Ihre Entstehungsgeschichte ist bemerkenswert. Walter Schübler hat für die Werkausgabe des Autors Anton Kuh (2016 erschienen) Zeitungen und Zeitschriften der Zwischenkriegszeit in Archiven gesichtet. Archivarbeit ist trocken und erfordert Sorgfalt. Laut Vorwort hielt Schübler sich bei Laune (»mein Quantum Trost«), indem er Texte über Essen und Trinken als Beifunde mitnahm.
Die heterogene Vielfalt der Funde bedurfte einer ordnenden Hand. Schübler präsentiert die knapp hundert Artikel aus zwanzig Jahren in kurzen Kapiteln mit sprechenden Überschriften chronologisch und thematisch. Sie schlagen den Bogen über die zwei Jahrzehnte hinweg von Hunger zu Gleichschaltung, von Lebensmittelkarte zu verordnetem Eintopfsonntag. Am Thema »Essen« durch die Zeit zu flanieren, ist lohnenswert und kurzweilig. Der Gegenstand führt durch die bewegte Zeit zwischen den Weltkriegen: Lebensmittelknappheit (z. B. in den Kapiteln Bestandsaufnahme 1919, Auf Karte), soziale Unterschiede (Bestandsaufnahme 1933), Bildung und Emanzipation (Entweder Kochen lernen – oder …), technische Entwicklung (Macht euch frei von der Haushaltssklaverei), Nationalsozialismus (Wo g’sund darufsteht, Kulinarische Gleichschaltung). Immer steht hier Essen metonymisch für das Ganze. Andere Kapitel thematisieren konkrete Aspekte des Essens und lesen sich ein Jahrhundert später zum Greifen nah. Muss man Strudelteig selber herstellen oder dürfen es auch fertige Strudelblätter sein? Hefe und Kombucha hatten ihre Zeit als Superfood, schlank und gesund sein war in Mode. Texte und Bildfolgen wie Winke für den Globetrotter und Das ewig gleiche Hotel-Menü belegen, dass das Schnitzel auf Mallorca keine Erfindung der 1970er Jahre ist. Das sind nur wenige Beispiele von vielen. Die Qualität der journalistischen Artikel stammt aus einer Epoche, in der man noch Zeit zum Schreiben hatte. Nicht alle erschließen sich auf den ersten Zeilen – weiterzulesen lohnt sich immer. Dabei ragen einige Autoren heraus: Walter Benjamin, Sigfried Kracauer, Anton Kuh, Alfred Polgar und Mechthilde Lichnowsky. Sie sind in die Kapitel eingereiht oder werden in Szene gesetzt: Solo für die Fürstin bündelt drei Texte von Lichnowsky und in Der Städter und die Landwirtschaft schreiben Polgar, Kracauer und Benjamin über die Grüne Woche in Berlin. Schübler kontrastiert die drei in seiner Glosse mit einem Zitat von Arno Schmidt.
Ein Wort zu den Quellen: Alle Artikel sind mit Namen, Zeitung und Datum versehen. Da Anton Kuh Österreicher war, halten sich Artikel aus Österreich und Deutschland die Waage. Auch Texte des Argentinischen Tageblatts aus Buenos Aires kann man lesen. Der Wiener Blick auf das Reich ist mal freundlich (»Zur Schande der österreichischen Hausfrau sei es gleich vorweg eingestanden, daß sie weit weniger als ihre Kollegin draußen im Reich die […] Lehren [ausdem vergangenen Krieg] befolgt. […] Die lange Jahre mühsam unterdrückte Abneigung gegen Konserven trägt sie bereits wieder ganz offiziell zur Schau« 1923, S. 54), mal weniger freundlich, wenn die deutschen Rezepte für den seit Oktober 1933 verordneten Eintopfsonntag zitiert werden. Da bittet der anonyme Autor aus der Wiener Allgemeinen Zeitung die »Leser, die an die kultivierte Wiener Küche gewöhnt sind«, um Nachsicht (S. 317).
Walter Schübler hat die Texte gesammelt und sortiert. Er kommentiert sie auch. Jedes Kapitel schließt mit einer Glosse von seiner Hand. Die nutzt er für Erläuterungen, Auswertungen, ergänzende Belege oder Bezüge zur Gegenwart, zitiert Arno Schmidt oder beschränkt sich auf ein Ohne »Sauce«. Die Rezensentin hatte ihre Freude daran.
Die zahlreichen Abbildungen sind es wert, hervorgehoben zu werden. Historische Anzeigen, Buchcover, Bildfolgen u. a. beleben und informieren. Besonders auf die sorgsam gestalteten Vorsatzpapiere ist hinzuweisen. Sie lohnen ein eingehendes Studium. Im sorgfältigen Anhang des Buches findet man u. a. bibliographische Nachweise, Sach-, Personen- und Werkregister.
Das bemerkenswerte Buch ist eine Fundgrube für jeden kulinarisch und historisch interessierten Menschen. Die umfangreiche Sammlung ist vorbildlich zugänglich gemacht und klug kommentiert. Durch den Blick zurück gelingt es, die Gegenwart mit Abstand zu betrachten. Zusammengefasst: unbedingt empfehlenswert.
Walter Schübler
Vom Essen zwischen den Kriegen
Edition Atelier, Wien 2024,
fester Einband, 360 Seiten,
Lesebändchen, 15 × 23 cm, 35 Euro